Um die Zapatisten zu verstehen

October 2022 · Last updated 2023-07-05 · 559 words

Ich interessiere mich für die Geschichte Mexikos, insbesondere für die Geschichte der Kolonialisierung und des Umgangs der meist europäischen Besatzer mit der indigenen Bevölkerung.

Die “Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst” Die Aktion Heft 137 / 144, Ausgabe III / 1995 ist betitelt “Berichte und Nachrichten zum Aufstand in Chiapas-Mexiko Land und Freiheit Erklärungen der Zapatisten nebst Briefen von Subcommandante Marcos”.

Sie enthält unter anderem diese, wie ich finde, sehr gute Erklärung:

Um die Zapatisten zu verstehen

Von Marta Durán de Huerta Patiño

Es gibt vieles, was die Zapatisten der Welt bieten können. Das wichtigste ist ihr Konzept von Demokratie, das nichts mit der parlamentarischen Farce der “freien Welt” zu tun hat. Die Zapatistas, das heißt, die Ethnien von Chiapas, praktizieren eine uralte Regierungsform, die darin besteht, einem Mitglied der Gemeinschaft, das auf das Vertrauen und den Respekt des Kollektivs zählen kann, eine bestimmte Aufgabe zu übertragen. Wenn diese Person die Aufgabe schlecht macht oder ihre Stellung mißbraucht, wird die Gemeinschaft sie ablösen und vielleicht auch bestrafen. Alle Entscheidungen werden kollektiv gefällt. Es spielt keine Rolle, wieviel Zeit man zum Diskutieren braucht, denn Zeit ist das einzige, was man reichlich hat. Die wichtigsten Fragen werden zur Abstimmung gestellt. Das Ergebnis wird schriftlich fixiert. Auch Kinder ab zehn Jahren können abstimmen. Dies ist eine jahrhundertealte Tradition. […]

Auf Seite 77 findet sich eine deutsche Übersetzung einer Audio-Botschaft von Subcommandante Insurgente Marcos an die Teilnehmer eines gesellschaftlichen Dialogs “um die Suche nach zivilen und friedlichen Wegen zur Lösung der Probleme zu verstärken”. Die Kassette wurde aus von Militär umzingelten Gebiet herausgeschmuggelt, und enthält neben Grüßen folgenden Text:


In der Folge stellen wir Euch unseren Vorschlag eines “Ergänzungsprotokolls” vor, das in die “Universale Sozialkonvention” aufgenommen werden soll, die Ihr verabschieden werdet. Wir gehen davon aus, daß unser Vorschlag wie alle anderer Eurer Diskussion unterworfen wird, und wir akzeptieren bereits jetzt die Entscheidung, die Ihr treffen mögt.

Ergänzungsprotokoll zur universellen Sozialkonvention

Die am heutigen Tag an diesem Ort versammelten Menschen fordern:

  1. Daß stets die Vernunft und nie die Stärke gewinnt.
  2. Daß die Mehrheit findet, was sie zur Mehrheit macht, und ihren Willen gegenüber der Minderheit durchsetzt, ohne daß dabei diese Minderheit verschwindet und ohne ihr Recht zu beschneiden, Mehrheit zu werden.
  3. Daß ein beliebiger Mann an einem beliebigen Ort in einer beliebigen Welt einer beliebigen Frau eine beliebige Blume schenken kann und daß diese Frau sich für diese Blume nicht mit einem beliebigen Lächeln bedankt, sondern mit dem besten und einzigen.
  4. Daß das Morgen nicht mehr ein großes Fragezeichen oder ein kommendes Unglück, sondern das Morgen eben genau das ist: das Morgen.
  5. Daß die Nacht keine Höhle der Angst ist, ein Becken des Wunsches soll die Nacht sein.
  6. Daß die Traurigkeit mit einer einfachen Geste der Verachtung eingeschüchtert wird und daß die Freude und das Lachen umsonst sind und niemals fehlen.
  7. Daß es für alle immer Brot gibt, um den Tisch zu erhellen, Bildung, um das Unwissen zu vertreiben, Land, um Zukunft zu ernten, ein Dach, um die Hoffnung zu beherbergen, und Arbeit, um die Hände zu würdigen.

Die Übersetzung finde ich nicht schlecht, bestimmt ist das Original ist noch eloquenter. Wenn ich es finde, verlinke ich es hier. Auch wenn Teile davon nach 27 Jahren und außerhalb des Kontexts etwas antiquiert erscheinen - ich mag den Text sehr: Eine humanistische Vision inmitten eines Bürgerkriegs. Poesie statt juristischer Fachausdrücke. Und kein Wort zu viel.

Portrait

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