Erich Mühsam: Liebe, Treue, Eifersucht

April 2020 · Last updated 2020-04-21 · 1584 words

Buchcover Wir geben nicht auf!

Eine schöne Abhandlung Erich Mühsams, ursprünglich herausgegeben 1929. Mühsam spricht über die der Monogamie innewohnenden Annahmen und ihren Folgen.

Mit freundlicher Genehmigung der Buch&media GmbH gebe ich den Text hier in Gänze wieder.

Meine Quelle ist ein sehr empfehlenswertes Buch aus dem Münchner Allitera Verlag: Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte. Erich Mühsam, Günther Gerstenberg.


Die Ansichten der Gräfin Franziska zu Reventlow

Um das Jahr 1907 drangen in die Münchener Intellektuellenzirkel die ersten Kenntnisse der neuen Lehre des Professors Freud und fingen an, das ganze geistige Leben Schwabings zu beherrschen. Ihr begeisterter Apostel war der noch jugendliche Grazer Psychiater Dr. Otto Gross, der mit dem Eifer des Fanatikers das ganze Cafe Stefanie analysierte, beziehungsweise das Analysieren lehrte. Es schwirrte an den Tischen nur so herum von “Komplexen”, “Sperrungen” und “Verdrängungen”, man war “konstelliert”, “okkupiert” und hatte für jede Art Umnebelung oder Verstimmung einen schönen wissenschaftlichen Ausdruck. Zufälle wurden aus verborgenen Absichten gedeutet, Träume auf Wünsche zurückgeführt, und für manche hatte das Unterbewusstsein der Nebenmenschen bald weniger Geheimnisse als das eigene Bewusstsein.

Ich gehörte zu den wenigen, die der Psychoanalyse einigermaßen skeptisch gegenüberstanden, obwohl ich mit Otto Gross persönlich befreundet war und mich auch eine Zeitlang von ihm in seine Ausfragebehandlung nehmen ließ. Es lag mir daran, zu beobachten, ob durch das Überklarwerden von halb oder ganz versunkenen Erinnerungen die dichterische Schaffenskraft beeinflusst werde; darüber habe ich damals mit Professor Freud selbst eine kurze Korrespondenz geführt. Ich brach die Behandlung ab, als der Arzt Fragen stellte, die sich auf allerverschwiegenste Dinge des erotischen Lebens bezogen, und die ich ihm mit der kurzen Erklärung beantwortete: “Das geht dich einen Dreck an!”

Die Gräfin Reventlow war durch mich mit Gross bekannt geworden, und eines Tages erzählte sie mir, worüber alles sie Auskunft hätte geben sollen. Sie hatte den Doktor ausgelacht und ihn gefragt, ob er denn wirklich meine, von sehr vielen seiner Patienten die Wahrheit zu hören, worauf er antwortete, das sei gar nicht nötig, niemand lüge außerhalb seines Charakters, und gerade wie jemand lüge, zeige, wie er assoziiere. Der Abbruch der analytischen Behandlung störte weder der Gräfin noch meine Freundschaft mit Dr. Gross. Im Gegenteil, die Beziehung von Arzt und Patienten verlor sich völlig, und man traf sich mit dem ausgezeichneten gelehrten und durchaus genialischen Menschen - er ist leider schon tot - auf dem Gebiet uns allen gleichmäßig naheliegender Probleme.

Gross vertrat, und zwar im engsten Zusammenhänge mit seiner sexualpsychologischen Berufstätigkeit, den Standpunkt einer auf uneingeschränkter Promiskuität beruhenden Sittlichkeit. Ich war von einer ganz anderen Seite her zu ganz gleichen Folgerungen gekommen wie er. Die anarchistische Gesellschaftslehre, die ich vertrete, erstrebt das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen auf der Grundlage weitest gehender persönlicher Freiheit. Ich glaube, dass nur freiwillige Bindung innerlich verpflichtet, und dass jeder auferlegte Zwang nicht nur den erniedrigt, der sich ihm beugt, sondern auch den, der ihn verhängt und ausübt. Freiheit aller bedingt Freiheit jedes einzelnen, und umgekehrt: niemand ist frei, ehe nicht alle frei sind. Daher kann der Kampf gegen jede autoritäre Macht nur geführt werden in Verbindung mit dem Kampfe gegen die Autorität im engsten Umkreise, gegen die autoritären Gelüste zumal, die den eigenen Sinn und die eigenen Sinne beherrschen und mithin zur Herrschaft bringen möchten. Weiter schloss ich: wer über einen Menschen Obrigkeit erlangen will, will sie über alle errichten, wer in seiner nächsten Umgebung den Gendarmen spielt, der entwickelt allgemein Gendarmentriebe in sich, und wer sich den Sklavenhalter im Hause gefallen lässt, der duldet überall Sklaverei und ist der Freiheit verloren. Alle traditionelle Tugend ist auf Befehlen und Gehorchen, auf Herrschen und Dienen gestimmt, und nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als in der allgemein gültigen, von kaum noch einer Seite kritisch angegriffenen Geschlechtsmoral. So richtete ich schon in den Anfängen meiner sozialpropagandistischen Tätigkeit heftige Attacken gegen das Prinzip der Monogamie, gegen die unter öffentlichen Schutz gestellte Ehe, vor allem gegen die Verfälschung des Begriffs der Treue zur Kennzeichnung der auf einen einzigen Partner beschränkten physischen Liebe.

Otto Gross sah in der zum ethischen Vorzug gestempelten Ausschließlichkeit der Liebe den wichtigsten Faktor seelischer Verdrängungen, darum eine unreine Quelle hunderterlei Selbstquälerei und gegenseitiger Lebensvergiftung mit der Folge von Hysterie und übelsten psychogenen Wirkungen; ich den Urgrund der Unfreiheit des Menschen vor sich selbst und vor der Mitwelt. Vollkommene Übereinstimmung ergab sich zwischen uns in der Beurteilung der geschlechtlichen Eifersucht als einer besonders schmählichen Form des Neides, die aber dank autoritärer Gesellschaftserziehung und priesterlicher Sittlichkeitsbegriffe heiliggesprochen war.

Franziska zu Reventlow war auf keinerlei theoretischen Wegen, wohl aber durch ihre kluge und unbefangene Lebensart zu genau denselben Anschauungen gekommen. Es ist ja aus ihren Tagebüchern hinlänglich bekannt, wie wenig sie sich in ihrer eigenen Daseinsführung um das Urteil der gestempelten Moral kümmerte. Es wird sich aber vielleicht verlohnen, aus Erinnerungen, die ich im Gedächtnis bewahre, die bewusste Kraft festzustellen, mit der sich die außerordentliche, hoch bedeutende und dabei von allen Grazien gesegnete Frau ihre Haltung zu dem Problem, das ihr vorzüglich nahe lag, geistig klarmachte.

Ich hatte 1909 ein Stück geschrieben, das den Titel “Die Freivermählten, Polemisches Schauspiel” führte. Es war ein typisches Thesenstück und behandelte mehr in zugespitzter Dialektik als in eigentlicher dramatischer Bewegtheit eben die Dinge der Liebe, Treue und Eifersucht, vom Standpunkt einer radikalen Verneinung der geltenden Moralbegriffe aus. Und zwar wurde ein in “freier” Ehe höchst korrekt lebendes Paar, das nur aus Prinzip auf die staatliche Kopulierung verzichtet hatte, einem amtlich verheirateten Paar gegenübergestellt, das in wirklicher Freiheit und ohne gegenseitige Beaufsichtigung ein harmonisches Leben führte. Ob ich der Gräfin das Stück vorlas oder ob ich ihr das Manuskript gab, weiß ich heute nicht mehr. Aber ihr Urteil klingt mir noch hell in den Ohren. Es war gar nicht übermäßig freundlich, und erfreute mich trotzdem mächtig. Denn während alle Bekannten, Kritiker und Kunstverständigen, denen ich die Arbeit zeigte, entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschulgen ob der Unmöglichkeit der Tendenz des Stückes oder sich gerade um der Realität dieser Tendenz willen begeisterten, sagte die Gräfin kopfschüttelnd: “Das sind doch alles lauter Selbstverständlichkeiten. Wozu machen Sie darum einen solchen Aufwand?”

Man lese das prachtvolle Buch der Reventlow “Von Paul zu Pedro”, in dem sie sich mit dem Thema: “der Mann” auseinandersetzt. Da wird allerdings auf jede Polemik gegen irgendwelche Tugenddogmen verzichtet; da wird nur über die verschiedenen Sorten beflissener Mannsbilder graziös geulkt, die sich selbst zwar allerlei Freiheiten gestatten, dabei aber von den moralischen Regeln des gesellschaftlichen Anstands noch nie einen Zweifel gespürt haben. Begegnen sie einer Frau, die sich mit ihrer natürlichen Sinnlichkeit vor niemandem verantworten will, so glauben sie, ihr fehle nur das “volle Glück”, und die unglückliche Dichterin, der fortgesetzt über die peinliche Vergangenheit hinweggeholfen werden soll, schreibt melancholisch: “Glauben Sie mir, man darf sich noch so weit und noch so lange auf der schiefen Ebene befinden, es tauchen immer wieder Männer auf, die uns durch wahre Liebe retten wollen.”

Als ich einmal wieder mit der Gräfin über den Gegenstand, der gerade durch die Lehren der Psychoanalytiker damals die Gemüter der Schwabinger Boheme dauernd beschäftigte, sprach, fragte ich sie, ob sie, auch wenn sie verliebt sei, sich völlig von eifersüchtigen Empfindungen freihalten könne. Da meinte sie: das ist eine Sache der Selbsterziehung. Das Gefühl der Eifersucht komme aus verletzter Eitelkeit. Man brauche sich aber nur selbst zu kontrollieren, um zu erkennen, das ein Wechsel in der erotischen Hinneigung nicht die geringste Herabsetzung des bisher Geliebten bedeute, und dass erst recht bei der Gleichzeitigkeit mehrere Beziehungen gar keine Wertvergleichung stattfinde. Habe sie in früheren Jahren aus einfachem Taktgefühl keine Eifersucht merken lassen, so habe sie später die Fähigkeit in sich entwickelt, derartige Empfindungen als minderwertig und unwürdig gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Was die Reventlow, wenn sie noch lebte, zu den Versuchen wohlmeinender Zeitgenossen sagen würde, die nachgerade erkannte polygamische Veranlagung der meisten Menschen schematisch ins geltende Eheleben einzuordnen, ist schwer zu ermessen. Vermutlich würde sie herzlich lachen. Was sie aber auf den Einwand entgegnen würde, dass ja doch das freie Liebesleben der Frau in ständigen Konflikt geraten müsse mit den Ansprüchen der Männer auf ihre Vaterschaftsrechte, das weiß ich. Denn einmal zeigte ich ihr eine Stelle im Tagebuch der Rahel aus dem Jahre 1820, die ihr eigenes mütterliches Herz tief berührte und die sie sich abschrieb. Sie lautete: “Kinder sollten nur Mütter haben und deren Namen tragen, und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familie. So bestellt es die Natur; man muss diese nur sittlicher machen. … Fürchterlich ist die Natur darin, dass eine Frau gemissbraucht werden kann und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. - Diese große Kränkung muss durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gutgemacht werden und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hatte nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden, alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria.”


Aus: Die Aufklärung 101929, Berlin, 315 f., in: Anarchismus und Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Kreis um Erich Mühsam und Otto Gross. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft 19, Lübeck 2000, 36ff.

Mühsam malt hier ein Bild, das in einigen Farben nicht der Wirklichkeit entspricht. Franziska zu Reventlow war in den “Theorien” sehr wohl bewandert. Auch seine nachträgliche Distanzierung von der Psychoanalyse erstaunt, war er doch in den eigenen damaligen Worten von seiner “Heilung” durch Otto Gross nachgerade begeistert. Vgl.: Christine Kanz, Zwischen sexueller Befreiung und misogyner Mutteridealisierung. Psychoanalyserezeption und Geschlechterkonzeption in der literarischen Moderne (Lou Andreas-Salomé, Franziska zu Reventlow, Erich Mühsam, Otto Gross), in: Anarchismus und Psychoanalyse …, ebd., 101 ff.


Aus: Wir geben nicht auf! Texte und Gedichte. Erich Mühsam, Günther Gerstenberg. Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.

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