Der Kampf gegen den Krieg muß die Schuldigen treffen

July 2023 · Last updated 2023-08-01 · 562 words

Aus Ernst Toller (Wikipedia, Britannica) - Eine Jugend in Deutschland (Wikipedia, Scan der Bayerischen Staatsbibliothek, Hörspiel), Originalausgabe 1933 Querido Verlag (Wikipedia) Amsterdam.

In meinem Innersten spüre ich eine Ruhe, die ist und mir Freiheit gibt. Ich weiß, daß ich in größter Unruhe leben, daß ich gegen Schmutz oder beschränkten Unverstand hitzig und erregt ankämpfen kann und mir diese innerste Ruhe doch bleibt.

Eines Tages finde ich auf dem Tisch ein Paket mit Büchern, die Denkschriften Lichnowskys, Mühlons, Beerfeldes, andere Broschüren.

Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden, ich hatte erkannt, daß der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande unseres Jahrhunderts ist. Über die Frage, wer den Krieg verschuldet hat, machte ich mir keine Gedanken. Ich lese Bücher, lese, daß die kaiserliche Regierung das Volk betrügt, sie ist nicht unschuldig am Ausbruch des Krieges, lese, daß die kaiserliche Regierung das Volk weiter betrügt, sie ist mitschuldig an der Fortdauer des Krieges. Es ist nicht wahr, sage ich wieder und wieder, aber hier sind Zeugen, die klagen an, die erhärten und beweisen ihre Anklagen. Die Regierung hat es nicht verhindert, daß die österreichische Monarchie den Krieg gegen Serbien entfesselte, die Regierung hat die Neutralität Belgiens verletzt, obwohl sie damit ihr Wort brach und wußte, daß dem Einbruch in Belgien die englische Kriegserklärung folgen würde, in diesem Krieg verteidigt sich nicht das deutsche Volk, ich verteidige nicht mein Vaterland, die deutschen Stahlmagnaten wollen die Erzgruben von Belgien, Longwy und Briey erobern, die Kriegsziele der alldeutschen Imperialisten verhindern den Friedensschluß. Wir sind betrogen, unser Einsatz war umsonst, bei dieser Erkenntnis stürzt mir eine Welt zusammen. Ich war gläubig wie alle Menschen in Deutschland, gläubig wie die namenlosen Massen des Volkes.

Als ich in dieser Nacht das Licht lösche, finde ich keinen Schlaf. Der Tag kommt, aber der Tag bleibt dunkel, mir ist zumute, als sei das Land, das ich liebe, von Verbrechern verkauft und verraten. Der Kampf gegen den Krieg muß die Schuldigen treffen, auch in Frankreich wird es Schuldige geben, wie es in Rußland Schuldige gab, auch in England, auch in Italien, wir leben in Deutschland, wer die Wahrheit erkannt hat, muß in seinem Land beginnen.

Die Frage der Kriegsschuld ist nicht nur eine Frage der Kriegsschuldigen, die Herrschenden sind verstrickt in das feinmaschige Netz der Interessen, Ehrbegriffe, Moralwerte der Gesellschaft. Sie suchen Macht und Ruhm und Freiheit ihres Volkes in der Ohnmacht, im Elend, in der Unterdrückung anderer Völker. Aber kein Volk ist wahrhaft frei ohne die Freiheit seiner Nachbarn. Die Politiker belügen sich selbst und belügen die Bürger, sie nennen ihre Interessen Ideale, für diese Ideale, für Gold, für Land, für Erz, für Öl, für lauter tote Dinge sterben, hungern, verzweifeln die Menschen. Überall. Die Frage der Kriegsschuld verblaßt vor der Schuld des Kapitalismus.

[…]

Ich nutze die Zeit, ich lese Werke von Marx, Engels, Lassalle, Bakunin, Mehring, Luxemburg, Webbs. Eher aus Zufall denn aus Notwendigkeit war ich in die Reihen der streikenden Arbeiter geraten, was mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft, für die Bedingtheit des Krieges, für die fürchterliche Lüge des Gesetzes, das allen erlaubt zu verhungern, und wenigen gestattet, sich zu bereichern, für die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, für die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse.

Danke für die Inspiration, Toller zu lesen, an meinen Freund Joschy aus der Band Toller.

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